Willkommen in der herrlich desillusionierenden Welt von Kala Brisella. Für den existenzphilosophischen Rundumschlag, den dieses Post-punk-erprobte Noise-Rock-Trio aus Berlin auf der Länge einer LP vollzieht, brauchen andere ein ganzes Lebenswerk, eine ganze Bibliographie – und kommen doch zu keiner wirklichen Einsicht. Kala Brisella dagegen verzichten auf »Endlich Krank« auf die große synoptische Geste und machen damit alles richtig. Sie lassen die Krankheit wuchern, sich ausbreiten, sich in die Flächen flüchten. Dabei ist festzustellen: Es gibt sie eigentlich gar nicht, die Krankheit als generischen Singular, nicht für Kala Brisella. Diese Art von Krank-sein, die Jochen Haker, Anja Müller und Dennis Deter auf ihrem Album vertonen, ist eine Vielheit, ein multidimensionales Rhizom. Die Philosophen Deleuze und Guattari setzten diese Metaphorik des Rhizomatischen einst ein, um ein Ideenkonzept zu entwickeln, das eine – im eigentlichen, ursprünglichen Wortsinn des Wurzelhaften – radikale Offenheit zu erfassen versucht. Eine Offenheit, die mit den Begriffen der traditionellen formalen Logik, mit dem hierarchischen Binaritätsglauben einer auf Subjekt-Objekt-Dualismen beschränkten Weltsicht nicht zu denken ist. Stattdessen: Kreuzungen, Verästelungen, Überschneidungen von Spuren, die sich im Unendlichen treffen, Linien, die als Knotenpunkte zusammenlaufen, nur um sich dann wieder in der Weite des Unendlichen zu zerstreuen. Solche Beschreibungen sind die Bilder einer postmodernen Epistemologie, die als Metapher zweiter Ordnung genommen wunderbar als Illustration des großartigen Coverdesigns von »Endlich Krank« dienen könnte, für das der Künstler Magnús Leifsson verantwortlich ist. Es zeigt einen introspektiven, sozusagen semi-organischen Blick in den menschlichen Körper, der zugleich ein Blick in das spätmoderne Menschsein an sich sein könnte.
Die Inszenierung einer Körperlichkeit, die das Körperliche transzendiert – das ist die große Zaubertat von Kala Brisella, der jede Rezipientin und jeder Rezipient gewahr werden kann, die/ der einer der furiosen Live-Performances der Band beiwohnt. Es verwundert keineswegs, dass alle drei Bandmitglieder mit dem Theater zu tun haben, einer Kunstform, die ja auf ganz besondere Weise davon lebt, dem Körperlichen eine geistige Dynamik zu geben, bzw. das Geistige zu verkörperlichen. Diese Dynamik, die sich hier als ein Drängen, ein Bedürfnis, dort als ein Schmerz, eine Verzweiflung, an anderer Stelle wiederum als ekstatischer Taumel artikuliert, scheint im lyrischen Zentrum des Albums zu stehen. Sie macht ein Spektrum an menschlicher Erfahrung sichtbar, die an einem bestimmten Mangel leidet: Einem notorischen Sich-nicht-als-ein-Sinnhaftes-realisieren-können. Was aber ist die Ursache, die Urwurzel dieses Leidens? Kala Brisella bleiben – dankenswerterweise – diese Antwort schuldig, opfern ihre Kunst nicht dem Therapeutischen. Es lassen sich letztendlich nur Vermutungen anstellen; ist es die omnipräsente Virtualität der neuen Medienwelt, die mir den Weg zu mir selbst, also zu meinem wahren Selbst verstellt? Es wäre auf den ersten Blick durchaus denkbar, »Endlich Krank« derartig zu deuten. Doch dann wäre ich wieder bei Blumfeld und der Ratgeberliteratur angelangt. Ich würde den ruhe- und grenzenlosen Drive von Textzeilen wie „ich möchte wandern durch die nacht über grenzen sie sind fast verblasst ihre stärke das bin ich diese strenge ist mein verzicht eine alte sehnsucht die sich nie erfüllt es ist eine kraft die nur in mir schläft“ (»In Meinem Innerern«) als kulturpessimistisches Veto einer Generation von Kids festzunageln versuchen, die der permanenten technisch-medialen Vermitteltheit ihrer Existenz überdrüssig geworden ist und nun Heilung in einem vulgärromantischen Vitalismus sucht, der unmittelbare Ursprünglichkeit verspricht. Eine solche Deutung wäre verlockend schlüssig, aber doch zu einfach, denn die Erkenntnis von »Endlich Krank« geht tiefer: Wenn ich eines über die Krankheit, die Kala Brisella hier so eindrucksvoll in ein klangliches Gewand aus ausuferndem Noise, Garage-Punk-Vehemenz und waveiger Weirdness hüllen, lernen kann, dann doch die Tatsache, dass diese Krankheit nicht etwas ist, das außerhalb von mir besteht, das ich so einfach abschütteln respektive ausschalten könnte (wie die Internetverbindung eines Smartphones). Die Krankheit ist längst in mir, hat von mir Besitz ergriffen. Mehr noch: Ich bin die Krankheit und jede meiner Bewegungen, jeder meiner Schritte ist eine Facette der Krankheit.
Können wir also wirklich nichts ändern? Gibt es gar keine Hoffnung auf Heilung? Könnten wir uns nicht so etwas wie einen Kierkegaardsche Twist vorstellen, nach dem wir nur unser eingebildetes, krankes Selbst aufgeben müssen, um zu einem richtigen, ursprünglichen, gesunden Selbst zu gelangen? Nein, können wir nicht, denn „diese Folter bleibt uns erhalten“ (»Flächen«). Nun, vielleicht ist es aber zumindest die Einsicht in die Unlösbarkeit eines zentralen inneren Konfliktes, die so etwas wie Trost spenden kann. Trost, der in der Erkenntnis besteht, dass wir in diesem Leiden alle gleich, bzw. alle gleich menschlich sind, sofern wir es als solches erkannt haben. Die Frage „wie soll ich frei sein wenn ich es muss“ (»In Meinem Inneren«) gehört nicht in den Bereich der persönlichen Psychopathologie, sondern betrifft die Grundbedingung des Menschseins. Mit der Paradoxie dieser Frage sind wir nicht alleine, sie verbindet uns, lässt uns ein im Krank-sein vertrautes Du finden, das versteht.