Gerade die Aufgeklärtheit über die Funktionsweise digitaler Prozesse und das diesem keineswegs entgegenstehende, sondern mit diesem einhergehende Bewusstsein, doch immer nur die Spitze des Eisberges zu Gesicht zu bekommen, kann diffuse Gefühle schaffen, die in charakteristischer Weise zwischen Resignation und Aktionsbedürfnis schwanken. Diese sind Resultat und Nährboden medialer Kampagnen, die uns, mehr auf emotionale Tönung als auf Argumente setzend, umso nachhaltiger zu beeinflussen suchen.
Diese Atmosphären stellen einen der interessantesten Ansatzpunkte für eine Auseinandersetzung mit dem so unscharf konturierten Begriff des „Postfaktischen“ – der mir in erster Linie mit den „Biosphären“ sozialer Netzwerke als einem besonderen und besonders prägenden Teil des Internets verbunden zu sein scheint – dar. Gerade auch sein Verhältnis zur Kunst lässt sich genau an diesem Punkt genauer betrachten.
Ähnlich wie den Medien in „postfaktischen“ Zeiten wird auch der sog. Post-Internet Art vorgeworfen, auf emotionale Schlüsselreize zu setzen und dem Kapitalismus durch unkritische Übernahme seiner Strategien in die Hände zu spielen. Unter Post-Internet Art kann man eine mit kommerziellen Bildsprachen und Mechanismen operierende, zwischen analogen und digitalen Sphären angesiedelte Kunst verstehen, die sich selbst als „post-kritisch“ begreift. Diese Verwendung der Bezeichnung war etwa auch vorherrschend in den Rezensionen der 9. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst, für die „Post-Internet“ – trotz der Umstrittenheit der Bezeichnung – eine Art „Anker“ im Meer zwischen Faszination und Verunsicherung angesichts der scheinbar affirmativen Haltung der Künstler_innen darzustellen schien.
Viele Arbeiten der Post-Internet Art lenken durch visueller Effekte, populäre Motive, Materialien oder Inszenierungsweisen schnell die Aufmerksamkeit vieler Betrachter auf sich, spielen bei näherem Hinsehen jedoch auf Themenfelder an, die nur Insider in ihrer Komplexität und Mehrdeutigkeit erfassen können. Die Post-Internet Art wendet sich scheinbar an ein Publikum in der Schnittmenge von Nerds und Kunstkennern, so dass die meisten Betrachter immer ein Stück weit Outsider bleiben. Diese Spannung erscheint konstitutiv für diese Kunst. Sie steigert damit aber nicht nur ihre Attraktivität als Ware, sondern setzt visuelle Schlüsselreize so ein, dass sie – so meine versuchsweise aufgestellte These – eine reflexive Haltung gegenüber medialen Strategien einer mehrdeutigen Stimmungsmache ermöglichen, die mehr auf Emotionen als auf inhaltlich greifbare Zusammenhänge setzen.
Ich möchte diesen Text als eine auf Fortsetzung angelegte Annäherung an die Verbindung zwischen der „Kunst nach dem Internet“ auf der einen und den für die Social Media charakteristischen Atmosphären zwischen kritischer Distanz und affirmativer Begeisterung für Technologien und Produkte, die uns ein problemloseres Navigieren in einer mit Informationen und welt- wie umweltpolitisch beunruhigenden Ereignissen überfluteten Welt versprechen, auf der anderen Seite sehen. Ziel ist es, zwei spezifische ästhetische Sphären der Internetkultur näher zu betrachten und Arbeiten, die man der Post-Internet Art zurechnen könnte, gegenüberzustellen. Beides soll in den folgenden Posts dieser hier wagemutig angekündigten Kurzserie geschehen. An dieser Stelle gilt es zunächst, einen groben Überblick und Einstieg zu geben.
Die erste zu untersuchende ästhetische Kategorie, in die eine nicht geringe Zahl an Facebook-Gruppen fällt, bezeichne ich als the sad. Die Gruppen wie vaporwave sadposting悲しい少年 2.0 oder Sadposting悲しい少年™ dominierende Stimmung ist eine sich mit Konsumprodukten – etwa Coca Cola, Fiji-Wasser, bunten Limonaden und Energy-Drinks, Fast-Food und regenbogenfarbenen Gegenständen aller Art – inszenierende selbstironische Traurigkeit im sanft gedimmten Licht des 90er-Jahre-Nostalgie-Pop-und Computer-Kitsch-und-Glitches. Eine coole Dauerdeprimiertheit, die irgendwie echt und gespielt zugleich ist, als würde man die Welt durch die kugelrunden naiven Augen einer Manga-Figur sehen, auf denen wiederum die in Metallic Blue getönten Gläser einer riesigen Hipster-Sonnenbrille sitzen. The sad ist ein Traurigkeit, die die Vereinsamung des Individuums in einer auf Konsum und Kontakte ausgerichteten Gesellschaft bedauert und zugleich beharrlich versucht, diesem Zustand nicht zu entkommen, sondern ihn zu perfektionieren, gewissermaßen in einer Art von Übererfüllung zu „domestizieren“.
Die Bildsprache der zweiten ästhetischen Kategorie – the survivalist – kombiniert Motive von Abenteuer, Fitness und Überlebenskampf zu einer Atmosphäre zwischen Naturnähe, Umweltbewusstsein, Selbstoptimierung und Ausnahmezustand. The survivalist kann sowohl Hobby als auch Lebensstil sein. The survivalist ist, wie man so schön sagt, „ein Interesse“. An den „Pinnwänden“ von survivalist-Gruppen häufen sich Tipps für einen umweltfreundlichen Alltag und Informationen über Technologien, die ein besseres Leben für mehr Menschen auf der Erde versprechen, über ausgefallene Fortbewegungsmittel für Extremsituationen wie den Land und Wasser trotzenden „Amphitruck“ oder „luxury super tank“. Anleitungen zum Bau von Unterschlüpfen in der Wildnis gesellen sich zu Videos über Produktinnovationen wie die Multifunktionshängematte „Hydro Hammock“ , die sich als Badewanne nutzen lässt, oder komfortable Luxusunterkünfte wie das finnische Iglu-Ressort zum Nordlicht-Watching, die mit dem „bloßen Überleben“ in freier Natur nicht mehr viel zu tun haben. „Überleben“ wird hier auch als Freizeitaktivität praktiziert, die eine kondensierte Form von Naturnähe im unwegsamen Gelände verspricht – und doch durchbrechen immer wieder Meldungen über verunglückte Wanderer, Unwetterwarnungen und ambivalente Nachrichten über politische, militärische oder die Umwelt betreffende Entscheidungen und Ereignisse die ganz und gar nicht unberührte Idylle aus Rindenmulch und High-Tech-Materialien.
Grundsätzlich scheinen Survivalist-Gruppen stärker politisch getönt bzw. von tiefem Misstrauen in die Politik geprägt zu sein. Hoffnung auf die Politik und ihre Handlungsträger zeigt sich kaum. Stattdessen versucht man, sich für den vom Menschen oder von Naturgewalten herbeigeführten „Ernstfall“ zu präparieren. Oft versammeln sich in „Survivalist“-Facebook-Gruppen sog. Prepper, die einander Ratschläge für das Verhalten in Katastrophenfällen erteilen. Die Postings durchzieht eine zarte Sympathie für eine individualistisch-kämpferische Entschlossenheit, “alles anders als die anderen zu machen”. Mehr oder weniger aus (Trump-)Prinzip.
In Vaporwave Sadposting-Gruppen finden sich dagegen selten Postings mit Bezug zum tagespolitischen Geschehen, und wenn doch, so sind diese keinem Lager zuzuordnen. In wenigen Ausnahmefällen, in denen dies doch der Fall ist, entspinnt sich in den Kommentaren keine politische Diskussion, sondern auf einer Art Metaebene wird vielmehr die Frage thematisiert (und explizit oder implizit meist verneint), ob politische Äußerungen in diesen Gruppen überhaupt als angemessene Beiträge zur Gruppenaktivität zu betrachten sind.
Beide Kategorien, the sad und the survivalist, vereinen ein kritisches bzw. tatkräftiges Auftreten mit nerdiger Selbstironie bzw. freakiger Technikbegeisterung, so dass sich eine Mischung aus aktiver Selbstermächtigung und passiv unterschwelliger Verunsicherung ergibt. Sie werden vor allem durch Postings in den sozialen Netzwerken, etwa in Facebook-Gruppen, aber auch Tumblr-Blogs oder Instagram-Feeds, bedient. Dort kondensieren sich Stimmungen, die in verdünnter Form auch gesamtgesellschaftliche Relevanz im Kontext des „Post-Faktischen“ besitzen.
Dies ist Grund genug, einen eingehenderen Blick auf die Inhalte und deren Rahmungen in den genannten ästhetischen Sphären der sozialen Netzwerke zu werfen. Insbesondere der starke Rückgriff auf Naturmotive, der the sad und the survivalist kennzeichnet, bietet einen wichtigen Ansatzpunkt für einen Vergleich der beiden Kategorien untereinander wie auch zwischen diesen ästhetischen Sphären des Internets und bestimmten Strategien der Post-Internet Art – nicht umsonst beschäftigen sich viele Kunstwerke in diesem Bereich mit digitalen Technologien und den Social Media als unserer „zweiten Natur“ und „Biosphäre“.
Welchen Blick also haben die in diesen Gruppen aktiven User auf die Natur und ihre technisierte Umgebung? Wie sehen sie sich selbst als auf diese Natur (künstlerisch? aktivistisch?) Einfluss nehmende Subjekte? Und könnte in dieser Sichtweise tatsächlich irgendeine Form oder Vorstufe von kritischer Bezugnahme auf kapitalistische Zusammenhänge liegen?
Anschließend an diese Fragen, soll es zudem darum gehen, welche Bezüge sich von der sich ergebenden Diagnose zu Arbeiten der Post-Internet Art herstellen lassen: Welche Parallelen und Verschiebungen sind zwischen beiden „Strömungen“ zu erkennen? Und was bedeutet dies für eine „post-kritische“ Rolle der Kunst, die sich mit Motiven, Strukturen und Mechanismen des von kapitalistischen Interessen durchzogenen Internets beschäftigt?
Eine Art des Zugangs zur sog. Post-Internet Art könnte tatsächlich sein, ihre besondere Qualität (auch) darin zu sehen, dass viele Arbeiten im Rückgriff auf emotional ansprechende, über inhaltliche Zusammenhänge jedoch im Unklaren belassende Schlüsselreize bewusst oder unbewusst auch jene ungreifbaren emotionalen Zustände isolieren, die den Nährboden für das Florieren zahlreicher instrumentalisierbarer ‘Wahrheiten’ in einer „postfaktischen“ Gesellschaft darstellen. In Arbeiten von Künstler_innen wie Timur Si-Qin, Kari Altmann oder Daniel Keller werden diese polyvalenten Atmosphären (zu denen auch the sad und the survivalist zählen) nicht kritisch zerlegt, sondern bestätigt. Jedoch wird im spielerischen Umgang mit visuellen Effekten die atmosphärische Ungreifbarkeit so gesteigert, dass das Fehlen konkreter Objekte, auf die sich unsere Beunruhigung richten könnte, überdeutlich hervortritt. Unser Umgang mit diffusen Stimmungen in der Medienlandschaft, die uns eher alarmieren statt zu aktivieren, wird damit reflektierbar. Ob diese Reflektierbarkeit aber erleichternde Auflösung verspricht oder im unbefriedigend unbenennbaren Gefühl, das sie hinterlässt, unser Verhältnis zum „Postfaktischen“ weiter verkompliziert, vielleicht gar der Etablierung einer Art von „Fankultur“ dient, bleibt die zentrale Frage, die es wenn nicht zu lösen, so doch weiter zu umkreisen gilt.
Foto oben: Daniel Kiss, alle anderen Abb.: Ellen Wagner