Flanieren, Followen und Flamenco

Als ich letztes Jahr im Herbst nach einer Woche Intensiv-Exkursion durch die spanische Mancha völlig entkräftet durch das Museo Reina Sofía in Madrid irrte, wurde ich plötzlich von einer klagenden Flamencogitarre zu einem visuell eher unauffällig an die Wand montierten Bildschirm gelockt. Auf diesem sah (und hörte) man den Flamencogitarristen Manuel Serrapí konzentriert die von Einsamkeit erzählende Soleá „Sevilla es mi tierra“ interpretieren. Die Soleá ist ein Palo im Flamenco, der tiefen Schmerz in einem zwischen gespannter Gefasstheit und entschlossener Getriebenheit hin- und herwechselnden Rhythmus zum Ausdruck bringt.
Wie ein Leitmotiv tönte sie durch die Ausstellung des Malers und Architekten Constant Nieuwenhuys bzw. dessen utopischen Stadtplanungsprojektes, das sich zwischen 1958 und 1974 immer mehr in einen dystopischen Abenteuerspielplatz verwandelte. Besonderen Einfluss auf Constant hatte die Konfrontation mit den im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gebäuden, die in den 1950ern oft in einer von den Situationisten kritisierten funktionalistischen Bauweise wiedererrichtet wurden. Als Constant zu den Situationisten stieß und sein erstes, gerade nicht zweckmäßiges Architekturmodell baute, befand er sich auf einem Forschungsaufenthalt in Alba. Hier fand er seine zweite große Inspiration: Die am Stadtrand lagernden „gypsies“ weckten Constants Faszination für den Flamenco, der für ihn zum Inbegriff einer dem ‚neuen Babylonier’ zugeschriebenen nomadischen Freiheit und Selbstbestimmtheit wurde. So entwarf Constant mit der Gruppe Triana, die mit ihrer Verbindung von Progressive-Rock und traditionellem Flamenco vor allem in der Zeit nach Franco Erfolge feierte, für Sevilla eine Anordnung architektonischer Sektoren, die er nach Flamencostilen wie der Taranta, der Alegría, der Siguiriya usw. benannte.

Eine situationistische Strategie, um die inneren Bilder einer Stadt zu ‚übermalen’, und die wohl auch den gedanklichen Hintergrund von New Babylon darstellt, ist die dérive – eine dem Spazierengehen ähnliche Methode, die jedoch keineswegs der Entspannung dient: Laut Guy Debord zielt die dérive darauf ab, ein Gebiet innerhalb der Stadt zu erkunden und sich dabei zu desorientieren. Dadurch, dass man nicht seinen – auch durch konventionelle Stadtplanung geprägten – Gewohnheiten folgt, sondern die Spezifika der Umgebung den eigenen Neigungen voranstellt, soll es möglich werden, die in der Alltagserfahrung marginalisierten Regionen der Stadt in deren lebendige Mitte zu holen bzw. diese Mitte in ein spielerisch zu durchquerendes Wegenetz aufzulösen. Auch wenn die Mitglieder der Situationistischen Internationale an Entwürfen für städtebauliche Umstrukturierungsmaßnahmen arbeiteten, geht es hier zunächst um die Überschreibung der Psychogeographie, d. h. des inneren Stadtplans, den man sich von einem Gebiet gemacht hat, etwa indem man immer die gleiche U-Bahn-Linie oder Umgehungstraße nutzt. Die Durchbrechung solcher Gewohnheiten hat bereits als noch nicht ins Politische gewendete, sondern explizit künstlerische Strategie, Einfluss auf unseren Alltag, indem sie nicht eine bestimmte Alternative, sondern generell die Möglichkeit zu permanentem Perspektivwechsel zeigt.

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A baby tortoise hatchling emerges from its shell. Probably a Marginated Tortoise (Testudo marginata). Source: German Wikipedia, original upload 22. Aug 2004 by Mayer Richard (selfmade)

Viele von Constants Architekturmodellen wirken wie reliefartige Gemälde, als solle New Babylon aus der Übermalung existierender Städte erstehen: Eine Stadt in Aquarell und Buntstift, jederzeit auszuradieren und neu zu skizzieren. Auch die als wechselnd konzipierten Präsentationsformen der Entwürfe – auf kleinen Tischen, weißen Sockeln, hölzernen Kufen, im Dämmerlicht oder wie Lampen von der Decke hängend – unterstützen deren Vorläufigkeit. Wie ein Fuhrpark unbekannter Flugobjekte sind die abgenutzt wirkenden Modelle aus Draht und farbigem Acrylglas sichtbar verschraubt, als könnte man sie jederzeit anders zusammenbauen.
Als Constant das New Babylon-Projekt dem Den Haager Gemeentemuseum überließ, sah er hierin den Startschuss für folgende Generationen, die seine Ideen weiterdenken würden. Die Beschreibung New Babylons als globales Netz aus mobilen Architekturen lässt den Eindruck entstehen, wir selbst befänden uns heute in diesem Paradies der kreativen Machbarkeit, in dem die Ideen des unitary urbanism – einer Theorie, die Constant mit Debord gegen die utilitaristische Konsumgesellschaft entwickelte – bereits real geworden sind.

Doch kann eine nach den Vorgaben unbedingter Selbstentfaltung errichtete Stadt überhaupt anti-kapitalistisch sein? Flexibilität und Kreativität sind heute zur Pflichtübung für jeden einzelnen, der sich selbst auf dem Markt zu halten hofft, geworden. In einer Gesellschaft, die erwartet, dass jeder sich und seine Umgebung permanent neu erfindet, kann man sich plötzlich wie in einem Spätwerk Constants fühlen, gefangen zwischen labyrinthischen Strukturen aus opaken Scheiben und Leitern, die ins Nirgendwo führen. In einer globalisierten und digitalisierten Welt sind wir mit einem Überangebot an Möglichkeiten, manchmal aber auch einen Mangel an Wegen konfrontiert.

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Supermarktschildkröte, By J. Patrick Fischer (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Gerade im Zusammenhang mit dem digitalen Navigieren scheinen sich Gelegenheiten zum Verfolgen ungewohnter Routen immer seltener zu ergeben. Der User speist, z. B. über Suchanfragen, den Text ein, der es erlaubt, ihn mit einem bestimmten Surfverhalten zu identifizieren und Resultate zu liefern, die dem Gesuchten möglichst genau entsprechen. „Algorithmen“, informiert Google, „sind die Computer-Prozesse und Formeln, die Ihre Fragen in Antworten verwandeln.“ [1] Der Name Google imitiert die englische Aussprache der Zahl 10100 und steht für das Ziel, möglichst große Datenmengen zu sortieren. Ergebnisse, die für eine bestimmte Suche relevant erscheinen, sollen unter den ersten zehn angezeigten Resultaten auftauchen und Usern das Zurechtfinden in einer stetig wachsenden Menge an Abrufbarkeiten erleichtern. Der PageRank-Algorithmus sortiert über die Vereinheitlichung der Nutzer: Er simuliert das Surfverhalten eines zufälligen Durchschnittsusers, der sich durch eine Reihe an Internetseiten klickt. Auch die Personalisierung von Suchergebnissen und Werbeanzeigen prägt das Erscheinungsbild unserer Interfaces, gerade auch in den Social Media. Im Vordergrund steht dabei das Erlebnis der Suche.

Der User surft in personalisierter Vereinzelung. Das ist ihm in den meisten Fällen auch nicht unangenehm. Denn im Unterschied zur Vereinzelung in einer anonymen Masse weckt die individualisierte Form der Isolierung weniger stark den Wunsch, ihr zu entkommen, mit anderen zusammenzukommen, um bewusst den eigenen Weg zu verlassen, wie in der dérive vorgesehen.
Für die Surrealisten war der Strom der Passanten Voraussetzung für Kollisionen mit „dem Wunderbaren“. Nötig für solche Zusammenstöße ist ein Geschwindigkeitsgefälle zwischen der Bewegung der (anonymen) Masse und der des Individuums. Auch Benjamins Flâneur ist für seine schildkrötengleichen, teils von einer angeleinten Schildkröte begleiteten Spaziergänge in der eilenden Menge bekannt. Bei den Situationisten wiederum wird im Zuge der dérive die Bewegung beschleunigt. Sie findet nicht in der Menge statt, sondern an beliebigen, eher sogar weniger belebten Orten. Das Gefälle ergibt sich z. B. durch die Bewegung in der Gruppe, innerhalb derer unterschiedliche Bewegungsrhythmen hinsichtlich der Geschwindigkeit und Richtungspräferenz einzelner Mitglieder aufeinanderprallen. Algorithmen aber gestalten unsere Reise so bequem wie möglich, indem sie potentiell langweilige Routen durchs WWW auszublenden suchen. Die Menge der User ist aus voneinander isolierten Individuen zusammengesetzt, das Fehlen einer einheitlichen Masse verunmöglicht ein Absetzen von deren Verhalten: In einer Menge erklärter Individualisten sticht auch der originellste Lebensentwurf kaum noch hervor.

Spätestens an dieser Stelle werfen meine notdürftig aneinander montierten Gedanken Fragen auf: Wie kann ich bei meiner Bewegung in digitalen Sphären ein Geschwindigkeitsgefälle zwischen mir und anderen herbeiführen? Wie können soziale Netzwerke zu „Übergangsorten“ werden, „where we are not only put in touch with others, but also where we can fully explore what relationships with others can mean“?[2] (Wie) kann das Followen zum Flanieren werden? Und WAS hat das alles mit Flamenco zu tun?
Ich weiß es nicht. Ich bin nicht Google, und ich verwandle Fragen, die ich mir zu Beginn eines Textes stelle, nicht in Antworten. Zumindest nicht in Sekundenbruchteilen. Auch wenn ich mir manchmal wünschen würde, das zu können. Jedenfalls ist ein Gefälle eine Differenz zu etwas, die nur zwischen unterschiedlichen Positionen, in einer gegenseitigen Durchdringung widersprüchlicher Bewegungsrhythmen entstehen kann. Diese Struktur wiederum findet man im Flamenco in einer plötzlichen Beschleunigung oder Zurücknahme des Tempos, im Wechsel zwischen fließenden und abgehackten Bewegungen, in unerwarteten Richtungswechseln. Der Flamenco dient mir hier vor allem als visuelles und akustisches Bild – wie die zwischen „gespannter Gefasstheit und entschlossener Getriebenheit“ schwankende Soleá, die eine Art emotionalen Zwischenzustand zum Ausdruck bringt, in dem sich das Individuum aus seinen Verhaltensautomatismen gegenüber seiner Umwelt herausgerissen findet.

Suesswasserschildkroete

von Bob Nichols [Public domain], via Wikimedia Commons 

Im Grunde kommt es mir auf etwas an, was Jan Verwoert eine „intensive Anonymität“ nennt. Verwoert meint damit, dass man sich als Publizist immer notgedrungen an ein unbekanntes Publikum wendet und dass diese Tatsache jedoch als eine „Möglichkeitsbedingung einer anderen Art, sich zu begegnen [jenseits der Zielgruppenorientierung], erfahren werden kann“ – als ein theatrales Spiel, in dem es keine Effizienz geben kann, „weil jedem Zug und jeder Strategie immer nur ein offener Ausgang beschieden ist.“[3]

Ausgehend hiervon meine ich mit intensiver Anonymität eine Haltung, die darauf verzichtet, immer alles über sich und andere wissen zu wollen, die vielleicht versucht, das Wissen, das sie zu haben glaubt, auszublenden, um sich einfach einmal einem fremden, ungewohnten Rhythmus zu überlassen – z. B. um für eine gewisse Zeit merkwürdig erscheinende Gewohnheiten anderer zu übernehmen, keine stetige Rückmeldung zu erwarten, sondern Reaktionen und Nicht-Reaktionen auszuhalten.

Wahrscheinlich hat Flanieren heute viel weniger mit elegantem Umherspazieren (was es nie war) zu tun als mit ungelenkem Topfschlagen, blind auf dem Boden umherkriechend, die Umgebung in behutsamer Grobheit mit einem hölzernen Utensil abklopfend. Ich kann und will also keine konkreten Empfehlungen aussprechen, wie man nun, im digitalen oder im analogen Raum, am heftigsten mit seinem Gegenüber und dem eigenen Ich zusammenstoßen kann. Vielmehr plädiere ich für eine generelle Haltung des Flâneurs – der sich zwischen anonymen Individuen bewegt und dabei der Möglichkeit eines Zusammenstoßes mit dem Unerwarteten ausliefert. „Man kann seinen Part nur in der Hoffnung spielen, dass jemand mitspielt und sich aus dem Zusammenspiel der Gesten etwas ergibt, was für den anderen dann möglicherweise […] bereichernd sein könnte.“[4]
Der algorithmisch gesteuerte Anteil  dieser Bewegung ist wohl nie ganz wegzudenken. Es lohnt sich aber, zu versuchen, ihn von Zeit zu Zeit immer mal wieder in den Standby-Modus zu versetzen.

Hawaii turtle 2

Suppenschildkröte, Source: Brocken Inaglory [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) oder CC BY-SA 2.5-2.0-1.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5-2.0-1.0)], via Wikimedia Commons

Alle Bilder via wikimedia commons.

Für schildkrötenfreies Bildmaterial zu Constant und Nueva Babilonia siehe die Materialsammlung im Pressebereich des Museo Reina Sofía .

[1] http://www.google.com/insidesearch/howsearchworks/algorithms.html?hl=de (20.7.2015).

[2] Ganaele Langlois: Social Media, or Towards a Political Economy of Psychic Life. In: Geert Lovink/ Miriam Rasch (Hgg.): Unlike Us Reader. Social Monopolies and their Alternatives. Amsterdam 2013, S. 50-60, hier S. 58.

[3] Jan Verwoert: Ist da draußen noch jemand? Wert, Macht und Ethik der Kritik angesichts der Anonymität der kulturellen Öffentlichkeit. In: Werkstatt Kunstkritik 2: Sprache als Tarnung. Das Dilemma der Kunstkritik. Montag Stiftung Bildende Kunst Bonn 2009, S. 20-25, insbes. S. 25.

[4] Ebd.

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