Die Straße geht aus der Stadt hinaus. Während die Motoren sich auf eine schwerfällige Monotonie einschwingen, verfärbt sich das Himmelsbild in dem gleichen gemächlich-trägen Rhythmus, in dem die Menschen hier draußen ihren Lebensalltag gestalten. Die Spuren des spätmodernen Nomadentums verlieren sich nach und nach, stille Umgebungen tun sich auf und überreden stumm zum Verweilen. Wie funktioniert eine Sprache der Töne, wenn die Stille uns die Worte aus dem Mund nimmt?
Hier geht es um Musik und Zeit, darüber, wie wir mit Musik unsere Zeit gestalten und wie die Zeit uns formt. Dass Musik gerne als eine, wenn nicht sogar die exemplarische Zeitkunst verstanden wird, ist nicht neu. Schließlich lässt sich das Grundgerüst des Musikalischen auf die Artikulation von Tönen in der Zeit herunterbrechen. Aber Musik ist nicht gleich Musik; alleine die Pop- und Rockmusik kennt unzählige Genredifferenzierungen. Musikstile unterscheiden sich voneinander unter anderem dadurch, dass sie eine unterschiedliche Stellung zur Zeit einnehmen. Damit ist nicht gemeint, dass sie mit unterschiedlichen Pausenwerten die empirische, quantitative Zeit auf unterschiedliche Art und Weise formieren. Das ist gewiss so. In der Zeit sein, das beinhaltet in Bezug auf Musikerfahrungen darüberhinaus aber die Möglichkeit eines reflexiven Sich-in-Verhältnis-Setzens zur Zeit als solche, zur Zeit als Idee, als Philosophikum, wenn man so will. So lässt sich beispielsweise die elektronische Clubmusic oder Techno, mit Ausnahme vereinzelter Downtempo-Varianten, als eine nimmermüde Akzeleration unseres Lebenstempus verstehen und die Sehnsucht nach einem endlosen Tanz als eine Flucht aus der leeren Zeit übersetzen. Das Genre Slowcore, in das sich Loftus grob einordnen lassen, war jeher ein Kontrapunkt zu einem solchen hyperdionysischen Musikverständnis, in stilistischer wie in ideologischer Hinsicht. Hier übergibt man sich nicht dem Fluss der Zeit, man stemmt sich gegen sie. Mit seinen bis an die Grenzen des Stillstandes heruntergefahrenen Stücken entfaltet die Reissue des 1999 im Umfeld der Blues-beflissenen Grunge-Band Red Red Meat entstandenen Albums heute noch die gleiche unhintergehbare Wirkung wie vor 14 Jahren: heilsame Entschleunigung. Damals wie heute kann ihr Klangentwurf als tonale Medizin einer bis ins Atemlose beschleunigten spätmodernen Lebenswelt verstanden werden. Diese Konzeption von Slowcore wird ihre Geltung so lange nicht verlieren, wie Zeit-Nutzen-Maximierungsrechnungen als omnivalente Kulturideale verstanden werden. In einer solchen Welt erstrahlt das Idyll in neuem Glanz. Hier kommt der Verligende nicht außer Atem, er kommt zur Ruhe. Neben diesem zeitlichen Aspekt haben musikalische Erzeugnisse aber immer auch eine räumliche Bedeutungskonstante. Wie auch bei der zeitlichen, amalgamieren hier historische und philosophische Aspekte. Sicherlich ließe sich der Ort sehr genau bestimmen, an dem »Loftus« zur Entstehung gekommen ist, lässt sich die Szene sezieren und ihre musicoregionalen Gebundenheiten beleuchten. Eine solche musikhistorische Raumexpertise wäre schnell angestellt. Sie könnte uns erklären, wie die blues-inspirierten Repetitionen in den staubigen Indie-Rock von Loftus gekommen sind, welche Bedeutung die Chicago-Area für die Genese dieser urbanen Wüstenlandschaften hat. Eine solche Anamnese wäre unterhaltsam wie unzureichend. Sie könnte uns nicht erklärlich machen – und hier kommt zugleich der Zeitaspekt wieder ins Spiel – warum sich dieser Tonträger ohne Komplikationen aus seinem historischen, raumzeitlichen Koordinatensystem herausschneiden lässt und gänzlich mühelos in jedes beliebige Setting unserer Jetztzeit transplantieren lässt. Sie hätte kein Instrumentarium an der Hand, um uns erklärlich zu machen, dass es nichts Geringeres als die Last der leeren Wiederholung ist, die wie ein Damoklesschwert über diesen Riffs und Loops lastet. Loftus entwickeln hier so etwas wie eine musikalische Dromologie mit Hang zum Pathologischen: Ihr dialektisches Americana-Modell lässt das taube Gefühl der ewigen Wiederkunft des Gleichen, das schon Nietzsche so schmerzhaft erfahren hat, erahnen.
Dieser Erfahrungsbereich kennzeichnet gleichzeitig die Schattenseite des Idylls, zeigt die Unerträglichkeit eines endlosen Verligens an: Ruhe ohne die Aussicht auf Beendigung derselben, ohne die Möglichkeit eines Verlassens der Insel ist ewiger Stillstand, Leerlauf. Immerwährende Zufriedenheit macht das Paradies unerträglich. Eine Erfahrung, die wir als getriebene Großstädter wie als entschleunigte Landbewohner machen können. Nur in der Stadt ist es oft zu laut, um so tief in uns hineinzuhorchen, dass wir die Leere hören können. Also setzen wir uns in das Auto, den Hochgeschwindigkeitszug oder das Flugzeug, rauschen zurück in die Stadt. Und warten auf die nächste Oase.